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Wunden der Wahrheit

Eine Kurzgeschichte


Das Summen der Neonröhren an der Decke war das Einzige, das die Stille erfüllte. Seraphina Veylin saß am Kopf eines alten Metalltisches, dessen Oberfläche von tiefen Kratzern und abgeblätterter Farbe gezeichnet war. Der Raum war spärlich beleuchtet, nur durch die diffuse Helligkeit, die durch die vergitterten Fenster drang. Draußen zeichnete das schummrige Blau des Neonlichts unruhige Schatten an die Wände, während in der Ferne das Geräusch einer Drohne zu hören war, die langsam vorbeischwebte.

Seraphina ließ ihren Blick über die Terminalanzeige wandern, die vor ihr auf dem Tisch flackerte. Die Liste der Mitglieder ihrer Gruppe scrollte in stetigem Tempo über den Bildschirm – Namen, Einsatzprotokolle, Verluste. Jeder dieser Einträge war ein Gesicht, ein Mensch, den sie irgendwann davon überzeugt hatte, dass es sich lohnte, für etwas Größeres zu kämpfen. Doch in letzter Zeit fühlte sich diese Liste weniger wie eine Bilanz des Widerstands an und mehr wie eine Sammlung von Schuldgefühlen. Zu viele davon waren in Rot markiert – vermisst, getötet, neutralisiert.

Ihr Blick blieb an einem Namen hängen: Eliah Carver. Es war fast drei Jahrzehnte her, dass er sie nach einem hitzigen Treffen mit einer einzigen Frage herausgefordert hatte: „Wenn du glaubst, es besser zu wissen, warum führst du uns dann nicht selbst?“ Er hatte es halb im Zorn gesagt, halb aus Verzweiflung. Doch die Gruppe hatte sich an diesem Abend nach dem Vorschlag auf sie geeinigt, als ob sie darin die letzte Hoffnung sahen, sich aus dem Chaos zu retten.

Damals war sie keine Anführerin gewesen – nur eine Technikerin, die sich den Konzernen widersetzt hatte, weil sie nicht anders konnte. Sie hatte keine große Vision für die Gruppe gehabt, nur den unerschütterlichen Glauben daran, dass sie mehr tun mussten, als sich zu verstecken und zu überleben. Doch als sie gewählt wurde, hatte sie ihre Zweifel beiseitegeschoben. Für die Menschen, die vor ihr standen, war sie zu etwas Größerem geworden, zu einem Symbol. Und dieses Symbol war sie seitdem geblieben, ob sie wollte oder nicht.

Ein schrilles Geräusch riss sie aus ihren Gedanken. Jemand hatte gegen die Metalltür geklopft. „Seraphina?“ Die Stimme gehörte zu Mara, einer der wenigen, die noch bedingungslos zu ihr standen. Seraphina drückte einen Knopf am Terminal, und die Tür glitt mit einem leisen Zischen auf.

„Was ist?“ Sie sah Mara an, deren Gesicht trotz des schwachen Lichts entschlossen wirkte. Ihre dunklen Haare waren in einem groben Zopf gebunden, und ihr kybernetisches Auge leuchtete matt im Takt der Neonlichter.

„Das Protokoll für die nächste Mission ist fertig. Die anderen warten darauf, dass du es überprüfst.“

Seraphina nickte langsam, doch ihre Gedanken waren noch bei den roten Markierungen auf der Liste. „Ich komme gleich.“ Mara zögerte, bevor sie die Tür wieder schloss. Die Stille kehrte zurück, doch diesmal fühlte sie sich schwerer an.

Seraphina ließ sich in den Stuhl zurücksinken, ihre Finger auf dem kalten Metall des Tisches ruhend. Sie hatte sich damals nicht freiwillig gemeldet, doch sie hatte akzeptiert, was die Gruppe von ihr brauchte. Und jetzt, all die Jahre später, spürte sie, dass sich etwas veränderte – dass die Zweifel nicht nur in ihr nagten, sondern auch in den Reihen derer, die ihr einst ihre Stimmen gegeben hatten.

Sie atmete tief ein und schaltete das Terminal aus. Es war an der Zeit, sich den Schatten zu stellen, die sich immer deutlicher abzeichneten.

Seraphina betrat den Versammlungsraum, wo die anderen bereits ungeduldig auf sie warteten. Der Raum war ein Relikt aus einer längst vergangenen Zeit, als die Randbezirke von Atherion noch als Rückgrat der Stadt dienten. Jetzt war er nur noch ein verfallenes Relikt, beleuchtet von einer schwachen, flackernden Neonröhre, die die Gesichter der Anwesenden in ein unruhiges Licht tauchte.

Die Mitglieder des Widerstands saßen oder lehnten an den Wänden, einige mit verschränkten Armen, andere still in Gedanken versunken. Mara warf ihr einen kurzen Blick zu, den Seraphina als eine Mischung aus Besorgnis und Entschlossenheit deutete. Sie wusste, dass Mara ihre treueste Unterstützerin war, doch selbst bei ihr bemerkte sie in letzter Zeit eine unterschwellige Unruhe.

Seraphina blieb stehen und ließ ihren Blick über die Runde schweifen. „Das Protokoll für die nächste Mission ist durchdacht und machbar“, begann sie mit ihrer typischen ruhigen, bestimmten Stimme. „Wir greifen das Subnetzwerk an, das den Konzernen in diesem Bezirk den Zugang zu Überwachung und Kommunikation ermöglicht. Es wird riskant, aber wenn wir Erfolg haben, könnten wir ihnen einen wichtigen Vorteil nehmen.“

Ein kurzes Schweigen folgte, das von einem leisen Raunen unterbrochen wurde. Dann sprach Dax, ein hochgewachsener Mann mit scharf geschnittenen Gesichtszügen und einer Stimme, die immer eine Spur zu laut war, um nicht provokant zu wirken. „Riskant ist noch untertrieben. Der letzte Einsatz war auch ‚durchdacht und machbar‘, und wir wissen alle, wie das ausgegangen ist.“

Seraphina hielt seinem Blick stand. Sie wusste, dass Dax seit Langem auf eine Gelegenheit gewartet hatte, ihre Position zu untergraben. „Das war eine andere Situation. Wir hatten keine vollständigen Informationen und mussten improvisieren. Dieses Mal sind wir vorbereitet.“

„Das sagt sich leicht“, warf Dax ein und verschränkte die Arme vor der Brust. „Aber wenn es wieder schiefgeht, wie viele Verluste sind wir bereit zu tragen? Und für was? Einen weiteren kleinen Nadelstich gegen die Konzerne, während sie uns ausbluten lassen? Vielleicht ist es an der Zeit, die Strategie zu überdenken.“

Einige der Anwesenden murmelten zustimmend, andere schauten verlegen zu Boden. Seraphina spürte, wie sich die Spannung im Raum verdichtete. „Wenn du eine bessere Strategie hast, Dax, dann hör ich sie mir gern an“, entgegnete sie ruhig, doch die Schärfe in ihrer Stimme war nicht zu überhören.

„Vielleicht sollten wir uns weniger auf deine Visionen verlassen und mehr auf pragmatische Lösungen setzen“, erwiderte Dax mit einem süffisanten Grinsen. „Deine Zeit als Anführerin war beeindruckend, keine Frage. Aber vielleicht ist es an der Zeit, Platz für neue Ideen zu machen.“

Das traf sie wie ein Schlag, auch wenn sie wusste, dass er darauf hinarbeitete. Seit Monaten hatte sie die kleinen Bemerkungen und zweideutigen Aussagen bemerkt, die Dax geschickt streute. Er säte Zweifel, baute Misstrauen auf – nicht direkt, aber immer knapp genug an der Grenze, um als „berechtigte Kritik“ durchzugehen.

„Die Entscheidung, ob ich gehe, liegt nicht bei dir, sondern bei der Gruppe“, sagte sie, und ihre Stimme war klar und fest. Doch tief in ihrem Inneren fühlte sie einen Riss. Sie hatte die Gruppe aufgebaut, gestärkt, durch die dunkelsten Stunden geführt – und jetzt standen sie da, als wäre sie nur ein weiteres Hindernis auf ihrem Weg.

Das Schweigen, das folgte, war schwer und unerträglich. Schließlich sprach Mara, leise, aber mit einer Entschlossenheit, die den Raum durchbrach: „Wir können uns nicht gegenseitig zerreißen. Nicht jetzt. Wenn wir anfangen, aneinander zu zweifeln, tun wir den Konzernen den Gefallen, den sie nicht einmal selbst einfordern müssen.“

Einige nickten, doch Dax zog sich nur mit einem leichten Achselzucken zurück und lehnte sich wieder an die Wand. „Natürlich. Wir sollten ein Team bleiben“, sagte er, doch in seiner Stimme lag ein Unterton, der Seraphina klarmachte, dass er noch lange nicht fertig war.

Als das Treffen beendet war und die Gruppe sich auflöste, blieb Mara zurück. „Er wird nicht aufhören“, sagte sie, als sie sich an Seraphinas Seite stellte.

„Ich weiß“, antwortete Seraphina. Ihre Stimme war ruhig, doch ihre Gedanken wirbelten. Sie wusste, dass Dax nicht allein war. Und sie wusste, dass der größte Feind nicht immer außerhalb der Mauern lauerte.

Das Dröhnen des Regens, der gegen die zerbrochenen Fenster schlug, füllte den Raum mit einem dumpfen Echo. Seraphina zog die abgenutzte Kapuze ihres Mantels tiefer ins Gesicht, während sie die verbleibenden Mitglieder des Teams musterte. Sie befanden sich in einem verlassenen Lagerhaus am Rand der Stadt, das einst für den Transport kybernetischer Bauteile genutzt worden war. Jetzt diente es als improvisierter Treffpunkt für den Widerstand – feucht, kalt und durchzogen von den Gerüchen von Rost und verrottendem Holz.

Die Mission war bereits gescheitert, bevor sie richtig begonnen hatte.

„Es waren falsche Daten,“ sagte Mara, ihre Stimme war fest, aber leise. „Der Zugangscode, den wir hatten, war eine Falle. Sie wussten, dass wir kommen würden.“

Seraphina ließ die Worte auf sich wirken. Es war nicht das erste Mal, dass ein Einsatz schiefging, doch diesmal war es anders. Diesmal war die Falle so präzise zugeschnitten gewesen, dass sie keinen Zweifel daran hatte, dass jemand aus den eigenen Reihen sie verraten hatte.

„Verluste?“ fragte sie, ohne den Blick von der Regenwand abzuwenden, die sich durch die Fenster zog.

„Drei,“ antwortete Mara nach einem Moment des Zögerns. Ihre Augen waren kühl, aber dahinter verbarg sich die Trauer, die sie immer mit sich trug. „Levi, Haron und… Keena.“

Der letzte Name stach. Keena war jung gewesen, fast noch ein Kind, mit einem Talent für Codierung, das die Gruppe dringend gebraucht hatte. Sie war die Art von Mensch, die Seraphina inspiriert hatte, überhaupt in dieser Position zu bleiben – ein Symbol dessen, was die Zukunft hätte sein können.

Hinter ihr meldete sich eine andere Stimme, eine, die sie sofort erkannte. Dax. „Das hätte nicht passieren dürfen,“ sagte er, und seine Worte klangen wie ein Urteil. „So viele Verluste, und für was? Eine Sackgasse.“

Seraphina drehte sich langsam zu ihm um. Sein Gesicht war kühl, seine Haltung provozierend entspannt. Um ihn herum standen einige der anderen Mitglieder, ihre Gesichter gezeichnet von Zweifel und Misstrauen. Es war ein Bild, das sie schon zu oft gesehen hatte – eine Gruppe, die kurz davor stand, auseinanderzufallen.

„Du hast recht,“ sagte sie ruhig. Ihre Stimme war kontrolliert, doch jeder Ton war eine Waffe. „Es hätte nicht passieren dürfen. Aber wir wurden verraten. Jemand hat uns in diese Falle gelockt.“

Ein Raunen ging durch die Gruppe. Dax schürzte die Lippen und zog eine Augenbraue hoch. „Das sind schwere Anschuldigungen, Seraphina. Hast du Beweise?“

„Noch nicht,“ erwiderte sie, und ihr Blick durchbohrte ihn wie ein Messer. „Aber ich werde sie finden.“

„Oder vielleicht,“ sagte Dax, und ein süffisantes Grinsen zog über sein Gesicht, „ist es einfach ein Zeichen dafür, dass wir uns zu sehr auf veraltete Methoden verlassen. Vielleicht brauchen wir jemanden, der bereit ist, Risiken einzugehen, anstatt in alten Mustern zu verharren.“

Einige der anderen nickten zögerlich, und Seraphina fühlte, wie sich die Stimmung gegen sie drehte. Es war nicht nur die gescheiterte Mission. Es war die Summe aus den Zweifeln, die Dax in den letzten Monaten gesät hatte, und den Verlusten, die sie nicht verhindern konnte.

„Risiken?“ fragte sie und trat einen Schritt näher an ihn heran. „Du sprichst von Risiken, als wäre das ein Spiel. Drei Menschen sind tot, Dax. Sie haben für diese Mission alles gegeben. Vielleicht solltest du darüber nachdenken, was für Risiken du eingehst, wenn du deine Machtspielchen fortsetzt.“

Sein Grinsen verschwand, doch sein Blick blieb fest. „Und vielleicht solltest du darüber nachdenken, ob du wirklich noch diejenige bist, die uns führen sollte.“

Die Worte trafen sie härter, als sie zugeben wollte. Ein Teil von ihr hatte sich diese Frage selbst gestellt. Doch es war etwas anderes, sie von ihm zu hören – inmitten von Menschen, die sie einst unterstützt hatten.

Das Schweigen, das folgte, war erdrückend. Niemand sprach. Niemand stellte sich auf ihre Seite.

„Das Treffen ist vorbei,“ sagte Seraphina schließlich und wandte sich ab. „Räumt das Lagerhaus auf und sorgt dafür, dass keine Spuren bleiben. Wir brechen hier ab.“

Sie ging zur Tür, bevor jemand widersprechen konnte. Der Regen schlug ihr ins Gesicht, als sie hinaustrat, und für einen Moment blieb sie einfach stehen, ließ das kalte Wasser über ihr Gesicht rinnen. Es gab keinen Zweifel mehr: Sie war dabei, den Kampf um die Gruppe zu verlieren.

Der Raum war still. Zu still. Das Lagerhaus, das tagsüber mit den Stimmen der Widerstandsgruppe gefüllt war, lag jetzt in völliger Dunkelheit. Seraphina stand allein vor dem Terminal, das in der Mitte des Tisches flackerte. Die Daten, die sie betrachtete, waren eindeutig. Es war kein Zufall gewesen.

Sie hatte Stunden damit verbracht, die Protokolle und Kommunikationskanäle der Gruppe zu durchforsten, und das, was sie gefunden hatte, war unmissverständlich: manipulierte Nachrichten, absichtlich falsche Koordinaten und verschlüsselte Befehle, die direkt mit Dax in Verbindung standen. Jemand hatte nicht nur ihre Mission sabotiert, sondern auch die Gruppe gespalten – Stück für Stück, mit einer Präzision, die fast bewundernswert war.

„Du hast es also gefunden.“

Die Stimme hinter ihr ließ sie zusammenzucken. Sie drehte sich um und sah Dax, der lässig im Türrahmen stand. Die schwache Beleuchtung des Terminals warf Schatten über sein Gesicht, doch das Grinsen war nicht zu übersehen.

„Du hast es nicht einmal versucht zu verbergen,“ sagte sie, ihre Stimme leise, aber scharf wie ein Messer.

„Warum sollte ich?“ Er trat näher, jede seiner Bewegungen eine Mischung aus Überheblichkeit und Gelassenheit. „Du weißt genauso gut wie ich, dass deine Zeit vorbei ist. Die Gruppe braucht etwas Neues – jemanden, der bereit ist, härter durchzugreifen, Risiken einzugehen. Und seien wir ehrlich, Seraphina: Du warst nie dafür bekannt, Kompromisse zu machen.“

„Du nennst das Kompromisse?“ Sie zeigte auf das Terminal, ihre Hand zitterte leicht vor unterdrücktem Zorn. „Du hast Menschenleben geopfert, nur um deine Position zu stärken. Du hast diese Gruppe verraten.“

„Verraten?“ Er lachte trocken. „Das ist ein starkes Wort. Ich habe getan, was nötig war. Du hältst uns in der Vergangenheit fest, mit deiner Moral und deinen Prinzipien. Aber diese Stadt – diese Welt – ist längst darüber hinaus. Du weißt das. Tief in dir weißt du, dass ich recht habe.“

Für einen Moment schien der Raum stillzustehen. Seraphina spürte, wie sich eine kalte, bittere Erkenntnis in ihrem Inneren ausbreitete. Dax war nicht einfach nur ein ehrgeiziger Opportunist. Er glaubte wirklich, dass er das Richtige tat – und genau das machte ihn so gefährlich.

„Du hast keine Ahnung, was du angerichtet hast,“ sagte sie schließlich. „Die Einheit dieser Gruppe war unser größtes Kapital. Du hast sie zerstört, um deinen eigenen Stolz zu befriedigen.“

„Einheit?“ Dax trat näher, seine Stimme wurde leiser, beinahe bedrohlich. „Es gab keine Einheit mehr, Seraphina. Nicht seit Jahren. Du hast es nur nicht gesehen, weil du zu beschäftigt warst, uns zu predigen.“

Sie wollte widersprechen, doch die Worte blieben ihr im Hals stecken. Ein Teil von ihr wusste, dass er zumindest in einem Punkt recht hatte. Die Gruppe war nicht mehr das, was sie einst gewesen war. Sie war gebrochen, und Dax hatte nur den Riss erweitert.

„Was jetzt?“ fragte er schließlich. „Willst du mich öffentlich bloßstellen? Glaubst du wirklich, das würde irgendetwas ändern? Die meisten hier stehen längst hinter mir.“

Sie wusste, dass er recht hatte. Ein offener Konflikt würde die Gruppe endgültig zerreißen. Wenn sie ihn herausforderte, würde es keinen Gewinner geben – nur noch mehr Zerstörung.

„Nein,“ sagte sie leise. Ihre Stimme war fest, aber ohne Zorn. „Ich werde dich nicht bloßstellen. Aber unterschätze mich nicht, Dax. Du magst jetzt die Oberhand haben, aber irgendwann wird die Wahrheit ans Licht kommen.“

„Ein edles Ziel,“ antwortete er mit einem leichten Lächeln. „Aber du bist nicht mehr Teil davon. Dein Platz in dieser Gruppe ist vorbei.“

Sie nickte langsam, fast mechanisch, und wandte sich ab. Ihre Hände zitterten, als sie das Terminal ausschaltete. Die Dunkelheit im Raum schien sich um sie zu schließen, doch sie spürte keinen Schmerz. Nur Leere.

„Vielleicht hast du recht,“ sagte sie schließlich, ohne ihn anzusehen. „Vielleicht ist es Zeit, dass ich gehe.“

Dax sagte nichts. Sein Grinsen blieb, während er sich umdrehte und den Raum verließ. Seraphina blieb zurück, allein in der Dunkelheit, und für einen Moment erlaubte sie sich, die Erschöpfung zu spüren, die sie all die Jahre über unterdrückt hatte.

Dann atmete sie tief durch, zog ihre Kapuze über den Kopf und verließ das Lagerhaus. Es war Zeit, sich vorzubereiten. Ihr Rückzug war nicht das Ende – nur ein neuer Anfang.

Die Versammlung war im größten Raum der alten Werkstatt anberaumt worden, die die Widerstandsgruppe als Hauptquartier nutzte. Die hohen Wände aus verrostetem Metall und die zerbrochenen Fenster ließen das flackernde Neonlicht von draußen in unruhigen Mustern auf die Anwesenden fallen. Ein kalter Wind zog durch die Halle, als Seraphina Veylin durch die Tür trat.

Alle waren da. Ihre Stimmen hallten gedämpft zwischen den Wänden, ein unregelmäßiges Murmeln, das verstummte, als sie sich ihren Platz am Kopf der Runde nahm. Ihre Augen wanderten über die Gesichter – einige erwartungsvoll, andere voller Misstrauen. Und dann war da Dax, der entspannt an die Wand gelehnt stand, mit einem Lächeln, das mehr Triumph als Zufriedenheit ausdrückte.

Seraphina fühlte die Schwere des Moments. Sie hatte sich auf diese Entscheidung vorbereitet, doch das Wissen darum machte es nicht leichter. Das waren Menschen, für die sie alles geopfert hatte. Menschen, die sie durch das Schlimmste geführt hatte. Und nun war sie hier, um ihnen den Rücken zu kehren – nicht, weil sie wollte, sondern weil es das Richtige war.

Sie hob die Hand, ein stilles Signal, das alle Gespräche zum Verstummen brachte. Ihre Stimme, als sie zu sprechen begann, war ruhig, fest, doch in ihren Augen lag eine Schärfe, die niemand übersehen konnte.

„Ich habe diesen Widerstand vor Jahrzehnten übernommen, nicht, weil ich darum gebeten habe, sondern weil ihr es von mir verlangt habt,“ begann sie. „Ich habe diese Verantwortung angenommen, weil ich an die Vision glaubte, die uns alle hierhergeführt hat: eine bessere Zukunft, frei von der Kontrolle der Konzerne, frei von Angst.“

Sie hielt inne, ließ die Worte im Raum hängen. Einige Köpfe nickten, andere blieben regungslos.

„Aber in den letzten Monaten habe ich gesehen, wie sich Risse in unserer Einheit gebildet haben,“ fuhr sie fort. „Und ich weiß, dass einige von euch denken, dass ich nicht länger diejenige bin, die uns führen sollte. Vielleicht habt ihr recht.“

Ein leises Raunen ging durch die Menge, doch Seraphina hob erneut die Hand, um es zu stoppen. Sie sah Dax an, dessen Lächeln jetzt breiter geworden war, als ob er bereits gewonnen hätte. Doch sie richtete ihren Blick schnell wieder auf die anderen.

„Ich könnte kämpfen. Ich könnte meine Position verteidigen und die Gründe darlegen, warum ich glaube, dass mein Weg der richtige ist. Aber ich werde es nicht tun.“ Ihre Stimme wurde härter. „Weil dieser Widerstand nicht von einer Person abhängt. Er hängt von uns allen ab – und von unserer Fähigkeit, zusammenzuarbeiten.“

Die Stille war jetzt fast greifbar. Selbst Dax schien überrascht, wenn auch nur für einen Moment.

„Deshalb trete ich zurück,“ erklärte sie. „Nicht, weil ich glaube, dass ich gescheitert bin, sondern weil ich sehe, dass mein Verbleib hier die Einheit gefährden könnte, die wir brauchen, um weiterzukämpfen. Meine Rolle in diesem Widerstand endet heute.“

Das Raunen brach wieder aus, diesmal lauter. Einige protestierten, andere schauten zu Boden. Mara stand auf, ihre Hände zu Fäusten geballt. „Das kannst du nicht machen,“ sagte sie, ihre Stimme bebend vor unterdrückter Wut. „Du bist der Grund, warum wir überhaupt noch hier sind. Ohne dich –“

„Ohne mich werdet ihr weiterkämpfen,“ unterbrach Seraphina sie mit einer Sanftheit, die Mara zum Schweigen brachte. „Das müsst ihr. Denn es geht nicht um mich. Es geht um das, was wir aufgebaut haben.“

Sie trat einen Schritt zurück, ihre Haltung aufrecht, auch wenn sie innerlich zerrissen war. „Ich vertraue darauf, dass ihr die richtigen Entscheidungen treffen werdet. Und ich hoffe, dass ihr nicht vergesst, worum es uns wirklich geht.“

Für einen Moment schien niemand zu wissen, was zu sagen war. Dann trat Dax nach vorn, langsam, fast triumphierend. „Eine weise Entscheidung,“ sagte er. „Ich denke, wir können alle –“

„Ich bin noch nicht fertig,“ schnitt Seraphina ihm das Wort ab. Ihre Stimme war scharf, und ihre Augen funkelten. „Ich habe keine Illusionen darüber, dass es Menschen in dieser Gruppe gibt, die persönliche Ambitionen über das Wohl aller stellen. Und ich warne euch – diese Ambitionen werden uns zerstören, wenn ihr sie nicht erkennt und aufhaltet.“

Ihre Worte ließen den Raum erzittern, und für einen Moment war Dax‘ Gesichtsausdruck wie eingefroren. Dann trat sie zurück, wandte sich um und verließ den Raum, bevor jemand etwas erwidern konnte. Ihre Schritte hallten über den kalten Boden, begleitet von der unruhigen Stille, die sie hinterließ.

Der Regen fiel in schweren, kalten Tropfen, prasselte auf die schmutzigen Straßen von Atherion und verwandelte sie in silbrig glänzende Spiegel. Seraphina zog ihre Kapuze tief ins Gesicht, das Neonlicht der Stadt reflektierte sich in den Pfützen unter ihren Füßen. Der Lärm der Stadt – das Dröhnen der Drohnen, das Summen der Schaltkreise, das unaufhörliche Klacken mechanischer Beine – war gedämpft durch das stetige Trommeln des Regens.

Sie war allein. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten fühlte sie die völlige Abwesenheit von Verantwortung, und es hinterließ eine Leere in ihr, die sie kaum ertragen konnte. Ihre Schritte waren langsam, mechanisch, fast so, als wüsste sie nicht, wohin sie gehen sollte. Und vielleicht wusste sie das wirklich nicht.

Die Entscheidung war gefallen. Sie hatte alles gegeben, was sie konnte, und jetzt war es an der Zeit, loszulassen. Doch die Last war nicht einfach verschwunden – sie hatte sich nur in etwas anderes verwandelt. Etwas Schwereres.

Seraphina blieb stehen und blickte zu den Überresten eines alten Gebäudes, das einst ein Unterschlupf für den Widerstand gewesen war. Das Dach war eingestürzt, und die Wände waren von Moos und Ruß überzogen. Es war ein Relikt, genau wie sie.

Sie lehnte sich gegen eine Wand, die kühle Feuchtigkeit des Betons kroch durch ihren Mantel. Ihre Gedanken wanderten zu den Gesichtern, die sie zurückgelassen hatte – Mara, die immer an sie geglaubt hatte, und selbst Dax, der sie verraten hatte.

Vielleicht hatte er recht gehabt. Vielleicht war sie wirklich zu lange geblieben, hatte zu lange an einer Vision festgehalten, die die Welt längst überholt hatte. Doch tief in ihrem Herzen wusste sie, dass sie keine andere Wahl gehabt hatte. Es war diese Vision gewesen, die die Gruppe zusammengehalten hatte, so lange es eben möglich war.

Ein mechanisches Summen ließ sie aufblicken. Über ihr zog eine Überwachungsdrohne in langsamen Kreisen ihre Bahn. Die Linsen richteten sich kurz auf sie, dann schwebte sie weiter, verschwand in den Schatten der oberen Ebenen der Stadt. Atherion war eine Stadt der Beobachtung, und doch fühlte sich Seraphina unsichtbar. Niemand suchte nach ihr, und das war vielleicht das Erschreckendste daran.

„Was jetzt?“ flüsterte sie, ihre Stimme verschluckt vom Regen.

Die Antwort kam nicht. Sie wusste, dass es keine einfache Antwort gab. Doch während sie dort stand, allein in den Ruinen einer sterbenden Stadt, spürte sie etwas Seltsames: eine Spur von Erleichterung. Sie hatte getan, was sie konnte. Sie hatte ihre Wahrheit gesprochen, selbst wenn sie nicht gehört wurde. Und jetzt… jetzt war sie frei.

Ihre Hand griff in die Tasche ihres Mantels, holte einen kleinen Datenchip hervor. Darauf befanden sich die verschlüsselten Informationen, die sie in den letzten Stunden hinterlassen hatte – eine letzte Versicherung, dass die Wahrheit eines Tages ans Licht kommen würde. Vielleicht nicht sofort, vielleicht nicht einmal zu ihren Lebzeiten, aber sie hatte ihren Teil getan.

Mit einem letzten Blick auf die Straßen von Atherion zog sie die Kapuze tiefer und verschwand im Regen. Ihre Schritte wurden leiser, bis sie mit dem Rhythmus der Stadt verschmolzen.

Die Widerstandsgruppe würde weitermachen. Sie mussten weitermachen. Und Seraphina wusste, dass sie in ihrem Rückzug nicht aufgegeben hatte. Sie hatte Raum für etwas Neues geschaffen – für Hoffnung, auch wenn sie selbst diese Hoffnung nicht mehr tragen konnte.

Die Stadt lebte weiter, und in ihren Schatten blieb ein Echo zurück. Ein Echo von Visionen, von Opfern und von der Wahrheit, die nicht vergessen werden durfte.


Die Wunden der Wahrheit

Seraphina Veylin trifft eine Entscheidung, die das Schicksal des Widerstands für immer verändern wird: Kann man alles opfern, um das Ganze zu retten?

  • War Seraphinas Rücktritt unvermeidlich?
  • Wie hätte die Gruppe ohne die Intrigen gehandelt?
  • Welche Verantwortung trägt Dax für die Zukunft des Widerstands?

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„Das Wohl vieler über das Wohl weniger zu stellen, erfordert den Mut, allein zu stehen.“

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