Eine Kurzgeschichte
Die untersten Ebenen von Atherion waren ein Reich aus Rost und Dunkelheit. Talos lebte dort, in einer Werkstatt, die eher einer Maschinenhalle glich. Sein Alltag bestand darin, biomechanische Teile für die Menschen in diesen Schattenbezirken zu reparieren, die sich kaum solche Dienste leisten konnten. Er selbst bestand zu fast einem Drittel aus Metall, ein Relikt einer Vergangenheit, die er nur bruchstückhaft erinnerte.
Doch in dieser Nacht änderte sich sein eintöniges Leben.
Es begann mit einem Klopfen an der Tür – ein leises, zögerliches Geräusch, ungewöhnlich in einer so verlassenen Gegend. Als er öffnete, stand eine junge Frau vor ihm. Ihr Körper war schwer beschädigt, ihre Kleidung zerrissen, und eine Mischung aus Blut und Öl rann über ihre mechanischen Gliedmaßen.
„Helfen Sie mir,“ flüsterte sie, bevor sie zusammenbrach.
Talos zog sie ins Innere und legte sie auf den Reparaturtisch. Sie war eine biomechanische Mischung wie alle anderen in Atherion, aber etwas an ihr war anders. Ihre Teile waren alt, unvollständig und wirkten handgefertigt – fast wie Prototypen. Während er sie reparierte, fragte er sich, woher sie kam – oder wer sie war.
Die Frau, die sich als Mina vorstellte, sprach wenig. Ihre Erinnerungen waren fragmentiert, ihre Fragen kindlich. Sie erkundigte sich nach alltäglichen Dingen in der Stadt, als seien sie ihr völlig fremd. Aber was Talos am meisten beschäftigte, war ihre Persönlichkeit. Trotz ihrer beschädigten Teile wirkte sie lebendig, neugierig und voller Emotionen.
„Bin ich ein Mensch?“ fragte sie eines Abends, während sie eine ihrer reparierten Hände betrachtete.
Der Regen fiel in schweren Tropfen, die ein Lied auf das Dach der Werkstatt trommelten. Mina saß auf einer alten Werkbank, ihre mechanischen Finger spielten nervös mit einer Schraube, die Talos achtlos liegen gelassen hatte. Ihr Blick war auf einen Punkt im Raum gerichtet, der nichts Besonderes bot – und doch schien sie weit in Gedanken verloren zu sein.
„Was bedrückt dich?“ fragte Talos schließlich.
Mina hob den Kopf, zögerte einen Moment und sprach dann leise: „Ich frage mich, ob ich… mehr bin als diese Teile.“ Sie streckte ihre Hände aus und betrachtete die präzise Mechanik, die Talos repariert hatte. „Ich meine, was bin ich überhaupt? Nur ein Körper? Ist das alles?“
Talos nahm einen Hocker und setzte sich Mina gegenüber. Einen Moment wirkte er nachdenklich, bevor er antwortete: „Diese Frage ist so alt wie die Menschheit selbst. Lange bevor wir unsere Körper mit Metall und Drähten vermischten, fragten sich die Menschen, was sie ausmacht.“
„Und?“ fragte Mina. „Was ist die Antwort?“
Talos lehnte sich zurück, seine mechanische Hand spielte unbewusst mit einer Schraube. „Es gibt keine eindeutige Antwort. Manche sagen, es sind unsere Gedanken – unsere Fähigkeit zu denken und Entscheidungen zu treffen. Andere sagen, es ist unsere Seele.“
„Seele,“ wiederholte Mina, das Wort klang fremd in ihrem Mund. „Was ist das? Gibt es sie überhaupt?“
Talos lachte leise, ein bitteres Lächeln umspielte seine Lippen. „Niemand weiß das. In alten Zeiten, bevor die Menschen anfingen, sich selbst zu modifizieren, glaubten viele daran. Aber beweisen konnte es niemand. Man sagte, die Seele sei das, was uns verbindet – etwas, das uns über den Körper hinaus trägt. Aber wie beweist man etwas, das man nicht sehen, messen oder anfassen kann?“
Mina schwieg einen Moment und sah Talos an. „Und heute? Glaubst du, dass wir noch Seelen haben, jetzt, wo wir mehr Maschine als Mensch sind?“
Talos zuckte mit den Schultern. „Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Ich denke, es spielt keine Rolle.“
„Wie kannst du das sagen?“ fragte Mina scharf. „Wenn wir keine Seele haben, wenn wir nur… Programme sind, was unterscheidet uns dann von Maschinen?“
Talos’ mechanische Hand legte sich sanft auf Minas Schulter. „Du bist kein Programm, Mina. Programme folgen Anweisungen. Sie fühlen nicht. Sie hinterfragen nicht, was sie sind. Du tust all das. Also frage ich dich: Glaubst du, dass du eine Seele hast?“
Mina starrte ihn an, ihre Augen glitzerten vor Emotionen, die sie nicht ganz einordnen konnte. „Ich weiß es nicht,“ flüsterte sie schließlich. „Wie könnte ich?“
„Das ist die richtige Frage,“ sagte Talos. „Niemand weiß es. Aber hier ist das Wichtige: Es ist nicht die Seele, die dich menschlich macht. Es ist die Frage. Nur Menschen fragen sich, ob sie eine Seele haben. Maschinen tun das nicht.“
Mina wandte ihren Blick ab, ihr metallischer Unterarm reflektierte das schwache Licht der Werkstatt. „Aber was, wenn ich keine habe? Was, wenn sie recht haben? Was, wenn ich nur… ein Konstrukt bin?“
„Mina,“ sagte Talos sanft, „du bist menschlicher als die meisten Menschen, die ich kenne. Wir alle sind Mischungen aus Fleisch und Metall, und die meisten von uns denken keinen Moment darüber nach, was das bedeutet. Aber du… du suchst nach Bedeutung. Das allein macht dich menschlich.“
Die Worte hingen schwer in der Luft, begleitet vom stetigen Trommeln des Regens.
Mina seufzte und lehnte sich zurück. „Vielleicht hast du recht. Aber was, wenn es niemanden interessiert? Was, wenn die Welt mich immer nur als Maschine sehen wird?“
Talos’ Gesicht wurde ernst. „Dann musst du entscheiden, ob du das akzeptierst. Denn am Ende zählt nicht, was andere denken. Es zählt, was du über dich selbst denkst.“
Eine Weile schwiegen sie, jeder in seine Gedanken versunken. Der Regen klang wie ein melancholisches Lied über eine Welt, die längst vergessen hatte, was es bedeutet, wirklich lebendig zu sein.
„Glaubst du, dass du eine Seele hast, Talos?“ fragte Mina schließlich, ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern.
Talos zögerte. „Ich weiß es nicht,“ sagte er ehrlich. „Aber solange ich fühlen kann, solange ich handeln kann, solange ich Menschen wie dich beschützen kann… reicht mir das.“
Mina lächelte schwach, ein Ausdruck, der auf ihrem müden Gesicht wie ein Hoffnungsschimmer wirkte. „Danke, Talos.“
Er nickte. „Geh schlafen. Morgen müssen wir überlegen, was wir als Nächstes tun.“
Am nächsten Tag sollte die Welt über ihr Schicksal entscheiden – in Form der Konzernpatrouille, die an ihre Tür klopfte und die Philosophie der vorherigen Nacht in kalte, harte Realität verwandelte.
Drei Männer traten ein, schwer bewaffnet und eindeutig nicht vollständig menschlich. Ihre kybernetischen Teile glitzerten im schwachen Licht der Werkstatt: mechanische Arme, leuchtende Augen, und einer von ihnen sprach mit einer Stimme, die klar aus einem verstärkten Modulator drang. Sie trugen die Insignien einer Konzernpatrouille.
„Wir wissen, dass sie hier ist,“ sagte der Anführer, sein metallischer Kiefer surrte mit jedem Wort. „Das Subjekt ist Konzernbesitz. Geben Sie sie uns, und wir lassen Sie in Ruhe.“
Talos verschränkte die Arme vor der Brust und stellte sich zwischen die Männer und seine Werkstatt. „Ich verstehe nicht ganz, wovon Sie sprechen.“
„Spielen Sie nicht den Ahnungslosen,“ sagte einer der Männer, dessen rechter Arm vollständig mechanisch war und beim Sprechen zuckte. „Das Subjekt ist eine Anomalie. Sie gehört uns. Sie ist keine Person.“
„Keine Person?“ Talos’ Stimme war ruhig, doch seine Augen verengten sich. „Wie genau definieren Sie das? Sie stehen hier, größtenteils aus Metall, und nennen sich Menschen. Was macht Sie besser als sie?“
Der Anführer trat einen Schritt vor, sein kybernetisches Bein erzeugte ein dumpfes Echo auf dem Metallboden. „Wir wurden geboren. Sie nicht. Sie ist eine Maschine.“
„Geboren?“ Talos lachte leise. „Sie stammen aus denselben Kammern wie alle anderen hier in Atherion. Sie wurden geformt, genährt und dann mit Maschinen verbessert. Und doch wagen Sie es, sie eine Maschine zu nennen, weil sie nicht in Ihrer Datenbank registriert ist?“
Der Anführer blieb unbewegt. „Gefühle und Gedanken machen sie nicht menschlich. Es sind nur programmierte Muster.“
„Programmierte Muster,“ wiederholte Talos langsam. „Dann erklären Sie mir das: Wenn sie Angst hat, Schmerz empfindet, lacht oder weint – wie unterscheidet sie sich von Ihnen? Sind Ihre Reaktionen nicht auch programmiert? Ist Ihr Körper nicht voller Mechanik, die nur darauf reagiert, was er wahrnimmt?“
„Das Subjekt gehört uns,“ wiederholte der Mann. „Das ist keine philosophische Debatte.“
Talos trat näher, sein mechanischer Arm klirrte leicht. „Oh, aber das ist es. Es geht darum, was wir Menschlichkeit nennen. Sie mögen den Befehl haben, sie zurückzubringen, aber Sie haben keine Ahnung, was sie wirklich ist. Sie sehen Metall und nennen es Maschine. Aber ich sehe eine Person.“
Der Anführer blieb einen Moment ruhig, seine Augen verengten sich. „Das Subjekt ist nicht hier,“ sagte er schließlich. „Sagen Sie uns, wo sie ist.“
Talos atmete tief durch und sagte leise: „Sie werden hier nichts finden.“
Die Männer durchsuchten die Werkstatt, rissen Schränke auf und warfen Werkzeuge zur Seite. Mina kauerte in einem improvisierten Versteck hinter einer Werkbank, das Talos vorbereitet hatte. Schließlich verließen die Männer die Werkstatt mit einer Drohung: „Wir kommen wieder.“
Als die Tür hinter ihnen zuschlug, trat Mina aus ihrem Versteck, ihre Augen voller Angst. „Warum… warum hast du mich beschützt?“
Talos sah sie an, seine Schultern schwer. „Weil du menschlicher bist, als sie es je sein könnten.“
In dieser Nacht packten sie ihre Sachen. Talos wusste, dass die Patrouillen zurückkehren würden. Sie mussten Atherion verlassen und sich in die Ödnis wagen, wo sie vielleicht Antworten auf Minas Vergangenheit finden konnten – und auf die Frage, was es wirklich bedeutet, Mensch zu sein.
Was macht uns menschlich?
Mina und Talos stellen uns Fragen, die zum Nachdenken einladen: Was macht Menschlichkeit aus?
- Was unterscheidet Mina von einer Maschine?
- Hättest du Talos’ Entscheidung unterstützt?
- Was bedeutet es, wenn nur Menschen fragen: „Habe ich eine Seele?“
Ich freue mich auf deine Meinung – teile sie in den Kommentaren!
„Die Frage macht uns menschlich, nicht die Antwort.“