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AI art in noir-cyberpunk style: dark worlds, futuristic vibes, cinematic aesthetics. Shadows, light, and tech reimagined

Die Brücke im Neonregen

Eine Kurzgeschichte


Die Brücke war eines der letzten Relikte der alten Stadt – ein schmaler, verlassener Übergang aus Stahl und Beton, der über die dunklen Adern Atherions gespannt war. Einst hatte sie eine Verbindung zwischen den Vierteln geschaffen, doch diese Verbindung war längst nicht mehr von Bedeutung. Der Fortschritt hatte die Brücke vergessen. Sie war zu einem toten Ort geworden, über dem nur noch der Regen regierte.

Er fiel schwer und unaufhörlich, wie alles in dieser Stadt, die nie stillstand. Tropfen prasselten auf das rostige Geländer, sammelten sich in Rissen des Betons und tropften rhythmisch in die endlosen Tiefen unter der Brücke. Dort unten lag die untere Stadt, ein Labyrinth aus Gassen, Neonlicht und Schatten, wo sich das Leben in flackernden Werbeanzeigen und gedämpften Stimmen verlor. Von hier oben konnte man die vollen Ausmaße Atherions sehen – die leuchtenden Türme der Oberschicht ragten in den Himmel wie gläserne Speere, durchzogen von schimmernden Datenströmen, während sich der Rest der Stadt in ein nebliges Grau auflöste.

Er stand am Rand der Brücke, die Hände in die tiefen Taschen seines Mantels geschoben. Sein Blick ruhte auf den Lichtern in der Ferne, doch eigentlich sah er nichts. Der Regen lief ihm über die Schultern, perlte an der abgetragenen, wasserabweisenden Oberfläche seines Mantels ab und zog träge Bahnen, als hätte auch das Wasser hier längst vergessen, warum es fiel. Für ihn war die Brücke nicht tot, sondern zeitlos. Ein Ort, der nichts forderte, nichts erwartete und an dem er einfach stehen konnte. Und so stand er dort oft – wie ein Teil der Brücke selbst, einer der Konstanten Atherions, immer noch da, während die Stadt weiterzog.

Sein Name war in den Schattenmärkten bekannt, aber nicht gefürchtet. Er war ein Datenmakler – einer der Alten, die wussten, wie man Informationen beschaffte, sie verschlüsselte oder verschwinden ließ. Über die Jahre hatte er sich in den Netzwerken der Stadt ein feines Geflecht aufgebaut, eine Nische, in der er sich eingerichtet hatte. Er kannte die richtigen Leute und die richtigen Wege. Seine Arbeit war Routine: Aufträge kamen, wurden erledigt, gingen weiter. Ein Kreislauf, der sich nicht störte und nicht stockte. Er war zufrieden, oder zumindest hatte er sich das lange genug eingeredet, um es für die Wahrheit zu halten. Ein Leben ohne große Erschütterungen.

Doch in letzter Zeit gab es sie.

Sie war anders als die anderen, die mit schnellen Schritten kamen und gingen. Sie – jung, ehrgeizig und immer in Bewegung. Eine Datenkurierin, flink und präzise, immer mit einem Fuß schon wieder woanders. Die Stadt lag ihr zu Füßen, oder sie tat zumindest so, als würde sie es bald tun. Sie war der Typ Mensch, der nach oben wollte – höher, schneller, weiter. Die Türme in der Ferne waren für Leute wie sie nicht nur leuchtende Symbole, sondern Etappenziele. Ziele, die er längst vergessen hatte.

Er konnte sich noch erinnern, wie sie zum ersten Mal vor ihm gestanden hatte – ein harter Blick, eine Frage nach Verschlüsselung und ein Cred-Chip, der ohne zu zögern auf seinen Tisch geknallt war. Sie war kühl und geschäftlich gewesen, und er hatte sie in die Schublade der Ambitionierten gelegt, die vorbeikamen und weiterzogen. Doch anders als die anderen war sie immer wieder gekommen. Nicht oft – erst in großen Abständen, dann häufiger. Und manchmal, wie heute, brachte sie nicht einmal einen Auftrag mit. Sie stand einfach nur da.

So wie jetzt.

Er hörte ihre Schritte auf der Brücke, leise und gleichmäßig, trotz des Regens. Sie schloss zu ihm auf und blieb neben ihm stehen, das Gesicht halb von ihrer Kapuze verdeckt. Der Regen tropfte von der Kante und lief ihr über die Wangen wie Tränen, die keine Bedeutung hatten. Schweigend folgte ihr Blick dem seinen, hinüber zu den Silhouetten der Stadt, die im Dunst zu verschwimmen schienen. Er wusste nicht, warum sie hier war. Vielleicht wusste sie es selbst nicht.

Ein Zittern lief durch die Neonlichter, als ob die Stadt für einen Moment den Atem anhielt, doch es war nur eine Störung im Dunst der Werbeanzeigen. Er merkte, wie seine Finger unbewusst das Interface in seiner Tasche umklammerten, als wollte er sich daran festhalten. Vielleicht lag es an der Stille zwischen ihnen. Sie war schwerer als der Regen und so dicht wie die Schatten, die unter der Brücke lagen.

Er wagte es nicht, sie anzusehen. Stattdessen starrte er weiter in die Ferne, während ihre Anwesenheit die Luft um ihn herum veränderte. Eine Ahnung, dass sie etwas sagen könnte, das er nicht hören wollte. Oder dass er etwas sagen könnte, das alles verändern würde. Doch vorerst stand sie einfach nur neben ihm.

„Nasse Nacht,“ murmelte er irgendwann, mehr zu sich selbst als zu ihr.

Sie zuckte kaum merklich mit den Schultern, ließ die Worte vom Regen verschlucken. Es war eine nasse Nacht, ja – aber in Atherion war jede Nacht nass.

Und doch war es nie dieselbe.

Er war sich ihres Blicks bewusst, spürte die leise Präsenz, die ihn an seinem Rand hielt. Es war nicht unangenehm, aber auch nicht leicht. Sie hatte diese Art, neben ihm zu stehen, als würde sie mehr sehen als die Türme, mehr fühlen als den Regen, mehr wissen als er je zu fragen wagte.

„Du bist stiller als sonst,“ sagte sie schließlich, ohne ihn anzusehen. Ihre Stimme war weich, aber auch nüchtern, fast geschäftsmäßig.

„Vielleicht liegt’s am Regen,“ erwiderte er, ohne den Kopf zu drehen. Eine Lüge. Er war still, weil er nicht wusste, was er sagen sollte. Weil jedes Wort falsch klingen könnte.

Sie zog die Kapuze etwas zurück, genug, dass er den Schatten ihres Gesichts sehen konnte. „Du redest sonst auch mehr, wenn’s regnet.“

Er lächelte schief, mehr für sich selbst als für sie. „Vielleicht liegt’s daran, wie der Regen heute alles zu verbinden scheint.“

Eine kleine Pause entstand, die von einem entfernten Blitz erhellt wurde, gefolgt vom gedämpften Grollen eines Donners. Es schien, als ob die Stadt selbst sich zu Wort melden wollte, aber sie verstummte wieder, ließ sie allein mit der Stille und dem Trommeln der Tropfen.

Er wagte schließlich einen Blick zu ihr, vorsichtig, um nicht ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Das Wasser lief ihr über die Wangen, tropfte von den nassen Haarsträhnen, die sich an ihren Hals schmiegsam gelegt hatten. Sie wirkte nicht verloren, aber auch nicht da, wo sie sein wollte. Sie blickte zu den großen Türmen.

„Du willst da oben hin, oder?“ Seine Stimme war ruhig, fast beiläufig. Er deutete mit einem Nicken auf eben jene aufragenden Türme, die in den Himmel stachen wie gläserne Speere.

Sie folgte seinem Blick, ließ die Frage eine Weile in der Luft hängen. „Vielleicht,“ sagte sie schließlich. Dann, nach einer langen Pause: „Vielleicht will ich aber auch nur von da weg, wo ich war.“

Er hatte nicht mit dieser Antwort gerechnet, doch er ließ sich nichts anmerken. Die Worte fühlten sich an, als hätten sie Gewicht – nicht viel, aber genug, um eine kleine Delle in seine Gedanken zu schlagen.

„Und?“ fragte er schließlich. „Bist du weg?“

Ihre Augen folgten immer noch den Türmen, als läge irgendwo zwischen den blinkenden Lichtern die Antwort. „Weg zu sein ist nicht dasselbe wie angekommen.“

„Manchmal,“ sagte er nach einer Weile, „bleiben Leute einfach stehen.“

„Manchmal müssen sie das.“ Sie sagte es, als wäre es eine Feststellung, keine Widerrede.

Das Schweigen kehrte zurück, dicker als zuvor. Er wollte etwas sagen, spürte den Druck der unausgesprochenen Worte auf seiner Zunge, aber es war, als würde der Regen alles schlucken, bevor es überhaupt aus ihm herausbrechen konnte.

Nach einer Weile löste sie sich von der Brüstung, wo sie mit einer Hand den kalten Stahl berührt hatte. „Weißt du, was ich manchmal denke? Manchmal frage ich mich, ob es überhaupt ein Oben gibt.“ Sie drehte ihm nicht den Kopf zu, sondern ließ die Worte einfach in die Dunkelheit gleiten, als wären sie nicht wirklich für ihn bestimmt.

Er wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Der Satz hallte in ihm nach, leise, wie ein Tropfen, der in eine unendliche Tiefe fällt. Sie war auf der Suche, das war klar. Nicht nach einem Ziel, sondern nach einer Richtung. Und er? Er war der, der stehen blieb, während sie zog. Ein Fixpunkt in einer Welt, die sich immer schneller drehte.

„Vielleicht nicht,“ sagte er schließlich.

Ihre Augen blieben auf die Türme gerichtet. Sie sahen aus, als würden sie flackern, doch es war nur der Dunst, der die Projektionen verzerrte. „Wahrscheinlich nicht,“ murmelte sie.

Er merkte, wie die Kälte des Regens langsam unter seinen Mantel kroch, doch er bewegte sich nicht. Irgendwo in seinem Kopf fragte er sich, warum sie immer wieder zu ihm kam. Er hatte nie gefragt, nie nachgehakt, was sie wirklich wollte. Und jetzt wagte er es erst recht nicht.

„Warum kommst du immer hierher?“ Die Frage kam heraus, bevor er sie zurückhalten konnte.

Sie schwieg für einen Moment, der vom Regen gefüllt wurde, bevor sie leise sagte: „Vielleicht, weil ich hier nicht reden muss.“

Sie wandte sich wieder ab, ihre Schultern leicht angehoben, als wolle sie die Worte zurückhalten, die auf der Kante ihrer Lippen lauerten. Der Regen prasselte weiter, schwer und erbarmungslos, und verschluckte fast ihre Stimme, als sie schließlich sagte: „Manchmal frage ich mich, ob es einfacher ist, nicht zu wissen, was jemand denkt.“

Er hielt den Atem an. Der Satz schien in der Luft zwischen ihnen zu schweben, ein Gewicht, das den Regen selbst zu verlangsamen schien. Sie hatte es ohne Blick zu ihm gesagt, als gehörte die Frage nicht ihm, sondern der Brücke, der Stadt oder der Dunkelheit um sie herum.

„Ist es das?“ fragte er leise. Seine Stimme war nicht mehr als ein Hauch, der sich in den Tropfen verlor.

Sie antwortete nicht sofort. Stattdessen ruhte ihre Hand auf dem Geländer, die Finger zogen feine Linien über den nassen Stahl, als würde sie ein Muster darin suchen. „Vielleicht. Vielleicht macht es manche Dinge erträglicher.“

Er wagte einen Blick zu ihr, doch ihr Gesicht blieb abgewandt, verborgen unter der Kapuze, die sich wie ein Schild über ihre Augen legte. Etwas in ihrem Ton berührte ihn, eine Mischung aus Resignation und einer Spur von Hoffnung, die sie selbst vielleicht nicht erkannt hatte.

„Aber nicht einfacher,“ sagte er schließlich. Seine Worte waren schwer, aber sicher, als hätte er sie lange durchdacht, obwohl sie ihm spontan entfielen.

Er dachte an die letzten Male, die sie hier gewesen war. Wie sie jedes Mal ein Stück länger geblieben war. Wie sie jedes Mal weniger gesagt hatte, aber mehr Bedeutung in ihrer Nähe getragen hatte. Er hatte es gespürt – diese Veränderung, die etwas in ihm wachgerüttelt hatte, das er lange ignoriert hatte. Er wusste nicht, ob es Hoffnung war oder Angst.

Was wollte sie? Warum kam sie immer wieder? Was bedeutete er ihr?

Was, wenn er jetzt sprach? Was, wenn er ihr sagte, dass sie mehr für ihn war als ein weiterer Kontakt, mehr als eine Kurierin, die Aufträge brachte und immer wieder ging? Was, wenn er alles riskierte?

Doch ebenso fragte er sich, was passieren würde, wenn er das Gleichgewicht zerstörte. Diese fragile Verbindung, die sie hatten, war das Einzige, was sie beide immer wieder hierherbrachte. Er konnte sich nicht vorstellen, sie nicht mehr an seiner Seite zu wissen, auch wenn es nur in diesen stillen Momenten war.

Sein Blick glitt zu ihr, verstohlen, wie immer. Sie stand mit einer Hand auf der Brüstung, den Kopf leicht geneigt, während sie in die Ferne blickte. Er versuchte, etwas in ihrer Haltung zu lesen, eine Einladung, ein Zeichen, aber sie gab nichts preis.

„Daten können nicht enttäuscht werden,“ sagte er plötzlich, seine Stimme ruhig, aber ohne die Entschlossenheit, die er sich gewünscht hätte.

Sie drehte sich leicht zu ihm um, sah ihn an, und für einen Moment konnte er ihren Blick nicht deuten. Vielleicht war da ein Anflug von Bedauern, vielleicht Verständnis. Oder vielleicht war es nur sein Wunsch, mehr in ihren Augen zu sehen, als wirklich da war.

„Das macht sie einfacher, oder?“ erwiderte sie.

Er nickte langsam, zwang sich zu einem Lächeln, das mehr für ihn selbst bestimmt war als für sie.

Ihr Blick ruhte auf der Stadt, als würde sie etwas suchen, das er nicht sehen konnte. Doch in ihren Augen lag etwas, das er nicht ganz deuten konnte – eine Spur Bedauern, ein Hauch von Unsicherheit, oder vielleicht einfach nur die Reflexion der Lichter.

„Bis bald,“ sagte sie, und ihre Stimme klang fast beiläufig, doch irgendetwas daran blieb an ihm haften.

Dann wandte sie sich ab und ging. Ihre Schritte waren leise, verloren sich im Trommeln des Regens auf dem Metall der Brücke. Er sah ihr nach, wie sie langsam im Schatten verschwand, ihr Mantel und die Kapuze mit dem Regen verschmolzen, bis sie ganz aufgelöst war – ein Teil der Nacht, ein Teil der Stadt.

Er blieb allein zurück. Der Regen prasselte noch immer auf seine Schultern, rann in kalten Rinnsalen über sein Gesicht. In seiner Hand hielt er das Interface, das er irgendwann wieder in die Tasche hatte gleiten lassen.

Doch dann spürte er es – ein leichtes Summen. Er zog das Modul hervor, das sie ihm hinterlassen hatte. Ein kleines, unscheinbares Datenfragment, das sich kühl und glatt in seiner Hand anfühlte. Es war leer. Kein verschlüsselter Auftrag, kein Hinweis, keine Botschaft.

Oder vielleicht doch?

Er starrte es lange an, während der Regen es langsam benetzte. Die Leere des Moduls war überwältigend. Es hätte ein Fehler sein können. Ein Fragment, das sie versehentlich bei ihm gelassen hatte.

Doch irgendwo tief in ihm wuchs ein anderes Gefühl: Dass die Leere selbst die Botschaft war.

Was wollte sie ihm damit sagen? Dass es nichts gab, was er hätte entschlüsseln können? Dass es keine Antwort gab, die er hätte finden können? Oder war es nur ein Echo dessen, was unausgesprochen zwischen ihnen geblieben war?

Mit einem letzten Blick auf die Türme der Oberschicht steckte er das Modul zurück in die Tasche. Es würde dort bleiben – ein Teil seiner Sammlung, ein weiterer unlösbarer Code in einer Stadt, die voller Geheimnisse war.


Was bleibt, wenn nichts gesagt wird?

In den verregneten Tiefen von Atherion treffen sich zwei Seelen.

  • Was bedeutet es, stillzustehen, während die Welt sich bewegt?
  • Ist Schweigen ein Schutz – oder eine vertane Chance?
  • Kann das, was fehlt, uns mehr sagen als das, was da ist?

Teile deine Gedanken zu dieser melancholischen Geschichte – was bleibt unausgesprochen?

„Manchmal ist es einfacher, nicht zu wissen, was jemand denkt.“

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