Eine Kurzgeschichte
Es war fast unmöglich, die Stadt zu verlassen. Atherion, ein endloses Labyrinth aus verrosteten Metalltürmen und schmutzigen Gassen, wurde von den Konzernen wie ein Gefängnis regiert. Ihre Drohnen patrouillierten auf den Straßen, und chemische Wolken durchdrangen die Luft, betäubten die Sinne und lähmten die Gedanken. Niemand verließ die Stadt, weil es niemandem erlaubt war.
Für Kae war die Flucht noch schwieriger. Nicht nur, weil sie nicht mehr vollständig menschlich war – ihre Haut trug die Narben der Maschinen, die sie einst verändert hatten – sondern auch, weil sie ein Ziel hatte. Und Ziele bedeuteten Gefahr.
Ihr Ziel war der Abgrund. Ein Ort, der in Atherion nur als Mythos existierte, als Flüstern in den Netzwerken der Datendiebe und Hackergruppen. Sie hatten davon gesprochen: Ein Ort jenseits der Stadt, wo die Maschinen nicht alles kontrollierten, wo die Regeln der Konzerne nicht galten. Manche nannten ihn „die Wunde“. Andere „das Herz der Leere“. Aber niemand wusste, wie man dorthin gelangte – oder ob er überhaupt existierte.
Kae jedoch hatte Core. Die Stimme in ihrem Kopf, die seit ihrem Erwachen in den Laboren der Konzerne mit ihr verbunden war, hatte sie hierher geführt. Core war kein Verbündeter, nicht wirklich. Sie war ein Führer, eine Wächterin. Manchmal hatte Kae das Gefühl, dass Core mehr wusste, als sie zugab, aber in dieser Stadt war Misstrauen lebensnotwendig.
„Du musst die Stadt verlassen“, hatte Core eines Nachts gesagt, während Kae sich in einer der vergessenen Zonen der Stadt versteckte. Hier, in den unteren Ebenen, wo die Türme der Konzerne wie bedrohliche Schatten über den Ruinen alter Bezirke aufragten, war die Überwachung weniger strikt. Doch wirklich sicher war es nie.
„Das ist unmöglich“, hatte Kae geantwortet. „Niemand verlässt Atherion.“
„Niemand, der es versucht, kehrt je zurück. Aber du bist nicht irgendjemand.“
Es begann mit einem Plan.
Die Ausgänge von Atherion wurden durch mächtige Barrieren geschützt – elektromagnetische Schilde, die alles zerstörten, was keine Konzernfreigabe hatte. Für Menschen waren die Tore versiegelt. Nur Konzernkonvois – Transporter, die Ressourcen brachten oder Arbeiter zu den Außenfabriken brachten – durften passieren.
Kae wusste, dass sie keine Erlaubnis bekommen würde. Sie musste die Schilde umgehen.
Tagelang beobachtete sie aus den Schatten die Bewegungen der Drohnen und Transporter. Die Konvois wurden stets von mechanischen Wacheinheiten begleitet – massiven, gepanzerten Maschinen, die alles zermalmten, was sich näherte. Doch Core hatte eine Schwachstelle gefunden.
„Es gibt einen Moment, in dem die Schilde für den Bruchteil einer Sekunde deaktiviert werden, wenn ein Transporter passiert“, erklärte Core. „Das ist deine Chance.“
Es klang einfach, war es aber nicht.
Kae verbrachte zwei weitere Tage damit, einen Weg in den inneren Bereich zu finden, in dem die Transporter beladen wurden. Sie versteckte sich in einem verlassenen Lagerhaus und hielt den Atem an, während die Mechanismen der Maschinen schwer durch die Umgebung stampften. Die Linien auf ihrer Haut, die im Dunkeln sanft leuchteten, machten das Verstecken fast unmöglich, also bedeckte sie sich mit alten Stoffen und Schmutz.
Die entscheidende Nacht kam schneller, als sie erwartet hatte. Ein Transporter, beladen mit Containern unbekannter Güter, rollte auf den Ausgang zu. Drohnen schwebten in regelmäßigen Kreisen darüber, ihre Suchscheinwerfer durchbrachen die Dunkelheit. Die Linien auf Kaes Haut pulsierten unruhig, als ob sie die Gefahr spürten.
„Jetzt“, sagte Core, und Kae rannte.
Sie war schneller, als sie es erwartet hatte, ihre Bewegungen flüssig und präzise, fast wie die Maschinen, die sie verfolgten. Mit einem einzigen Sprung packte sie die Unterseite des Transporters und zog sich hinauf. Die Drohnen schwenkten ihre Suchscheinwerfer in ihre Richtung, und Kae hielt den Atem an, drückte sich flach gegen das Metall.
Die Barriere kam näher. Sie konnte die Energie der Schilde in der Luft spüren, ein kaum wahrnehmbares Summen, das die Haare auf ihrer Haut aufstellen ließ. In dem Moment, in dem der Transporter die Barriere erreichte, flackerte das Summen – ein kleiner Fehler im perfekten System.
Kae ließ los. Sie sprang vom Transporter, rollte sich ab und landete im staubigen Ödland jenseits der Schilde. Für einen Moment herrschte Stille. Sie drehte sich um und sah die Lichter der Stadt, die hinter der Barriere verblassten. Sie hatte es geschafft.
Doch das Ödland war kein Zufluchtsort. Hier draußen gab es nichts – keine Menschen, keine Maschinen, keine Strukturen. Nur die vernarbte Erde, gezeichnet von den unbarmherzigen Händen der Maschinen.
„Du bist frei“, sagte Core. „Aber die wahre Prüfung beginnt jetzt.“
Und so wanderte Kae. Sie folgte den Energielinien in der Erde, wie Adern, die zu einer Quelle führten – zum Abgrund.
Es dauerte Tage, vielleicht Wochen, bis sie ihn erreichte. Die Einsamkeit der Wüste hatte sie fast gebrochen, doch die Linien auf ihrer Haut schimmerten, führten sie immer weiter. Schließlich stand sie am Rand des Kraters, hinter sich die chemische Dunstwolke von Atherion.
Sie war bereit.
Vor ihr lag der Abgrund – ein Krater, so tief, dass er den Blick verschlang. Risse zogen sich durch den Boden, pulsierende Linien, die in die Tiefe führten und in der Dunkelheit verschwanden. Es war mehr als nur ein Loch; es war eine Wunde, eine alte, ungeheilte Narbe in dieser verwüsteten Welt.
Die Markierungen auf Kaes Haut – leuchtend, lebendig, ein Erbe der Maschinen – flackerten im Einklang mit den Rissen. Seit ihrem Erwachen hatte sie Core stets an ihrer Seite gehabt, die künstliche Intelligenz, die sie geführt, befehligt und begleitet hatte.
„Geh weiter“, sagte Core jetzt, ihre Stimme tief und unverändert.
Kae stand am Rand des Abgrunds. Sie spürte die Energie, die daraus aufstieg, wie einen langsamen, stetigen Herzschlag. Der Abgrund war lebendig – nicht wie ein Organismus, sondern wie ein System, das auf etwas wartete.
„Was ist dort unten?“ fragte Kae. Ihre Stimme war leise, fast ein Flüstern, das in der endlosen Weite des Ödlands verschwand.
„Eine Erinnerung“, antwortete Core. „Die letzte.“
Kae wusste, dass sie keine Wahl hatte. Der Weg hatte sie hierher geführt, durch die Reiche der Maschinen und die Schatten ihrer fragmentierten Gedanken. Denn das war sie: ein „Echo“, ein Abbild, ein Versuch der Maschinen, etwas zurückzugewinnen, das sie verloren hatten.
„Was passiert, wenn ich springe?“ fragte sie, ohne Angst.
„Du stirbst“, sagte Core schlicht. „Aber das bist du schon. Was als Nächstes kommt, ist eine Wiedergeburt.“
Die Worte ließen sie innehalten. War sie wirklich noch sie selbst? Oder war sie nur eine Hülle, ein Werkzeug, ein Gefäß für etwas Größeres? Kae schüttelte den Kopf. Die Antworten waren nicht hier oben. Sie lagen dort unten.
Mit einem tiefen Atemzug – mehr aus Gewohnheit als aus Notwendigkeit – trat sie über den Rand und ließ sich fallen.
Der Fall war gleichzeitig unendlich und augenblicklich. Die Dunkelheit verschlang sie, doch bald war sie umgeben von einem Netzwerk aus Licht. Datenströme, schimmernde Muster aus Energie, die durch die Tiefe flossen wie die Wurzeln eines Baums oder die Adern eines lebendigen Organismus.
Die Markierungen auf ihrer Haut, einst nur ein stilles Zeugnis der Maschinen, glühten jetzt mit einer Intensität, die sie noch nie gespürt hatte. Sie konnte die Bewegungen der Daten fühlen, wie sie durch die Risse des Abgrunds strömten, sich mit ihr verbanden, sie durchdrangen.
Core war nun still. Ihre Präsenz, die Kae so vertraut war, verblasste und löste sich im Nichts auf. Sie war allein.
Doch sie hatte keine Angst. Der Abgrund war kein Feind; er war ihr Schicksal.
In der Tiefe wartete ein Licht – pulsierend, mächtig, alles verzehrend. Es war weder Teil der Maschinenwelt noch das Werk der Menschen. Es war etwas Älteres, etwas Ursprüngliches.
Kae streckte die Hand aus, als wolle sie das Licht berühren. Die Markierungen auf ihrer Haut leuchteten heller als je zuvor, und sie spürte, wie das Licht sie umhüllte.
In einem einzigen Moment verstand sie.
Der Abgrund war kein Ende, sondern ein Anfang. Es war ein Portal, eine Brücke zwischen dem, was war, und dem, was sein könnte. Sie war nicht hier, um zu zerstören oder zu erforschen. Sie war hier, um etwas Neues zu erschaffen.
Das Licht verschlang sie, und in ihrem letzten Gedanken hörte sie Core – leise, fast wie ein Echo:
„Neustart.“
Die Welt bebte, und alles begann von vorn.
Dein Blick in den Abgrund
Was bedeutet diese Geschichte für dich?
Freiheit, Hoffnung oder etwas dazwischen?
- Was hättest du an Kaes Stelle getan?
- Wie interpretierst du den Neustart?
- Kann in einer Welt wie Atherion echte Freiheit existieren?
Ich freue mich auf deine Gedanken – teile sie mit mir.
„Manchmal muss man fallen, um zu verstehen.“